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  • AutorenbildBjörn Kern

Im Freien: Raum der Revolte

Die Zauberwelt vor der Tür ist nah, unmittelbar und stark. Das System ist da noch nicht. Die Zauberwelt hält das System auf Abstand. Wenn ich auf meine Sinne zurückgeworfen bin, spielt das, was mit Sinnen nicht wahrzunehmen ist, keine Rolle mehr. Was eine Rolle spielt, blendet mich, oder schmeichelt meiner Haut, dröhnt in den Ohren oder ist kaum zu vernehmen, schmeckt frisch oder schal. Wenn ich im Freien bin, spüre ich, dass das System nicht alternativlos ist. Im Freien hat es keine Macht über mich.


Doch, Moment. Das System? Was ist das?


Der Kapitalismus? Die Vierzigstundenwoche? Die Leistungsgesellschaft? Vielleicht ist es auch einfach die Summe der Gewohnheiten, nach denen ich lebe, wenn ich drinnen bin. Das Aufwachen mit Wecker, die Stunden am Rechner, der abendliche Einkauf von knisternder Plastikfolie, der ein wenig Gemüse beigegeben ist. Es sind Gewohnheiten, die mich führen, die ich nicht hinterfrage, für die ich mich nicht rechtfertigen muss.


Leider sind gerade die Gewohnheiten, für die ich mich nicht rechtfertigen muss, besonders schädlich. Auch Pünktlichkeit führt zu Feinstaub, auch Fleiß zu Artensterben, auch Genauigkeit zu Elektroschrott. Obwohl ich alles richtig mache, mache ich alles falsch.


Und so geht es beim Draußensein nicht nur um das Freilegen weggeklickter Sinne. Das Draußensein hilft auch dabei, die Maßstäbe wieder zurechtzurücken.


Neues iPhone? Flug auf die Antillen? Autofahrt zur Plastikfolie?

Alles normal?

Oder nur zufällig gerade Konsens?


Eine einzige Lehrerin hielt zu Schulzeiten den Kampf gegen die naturwissenschaftliche Verrohung aufrecht. Sie leitete die Arbeitsgemeinschaft Umwelt und lehrte Dinge, die ich damals für Unsinn hielt. Menschengemachten Problemen mit menschengemachten Lösungen zu begegnen, das funktioniere nicht so recht, sagte sie immer. Ansatzweise begriffen, was sie meinte, habe ich erst, als ich begann, ins Freie zu gehen. Dem Verbrennungsmotor folgt der Katalysator, dem Katalysator der Feinstaubfilter, dem Feinstaubfilter die Müllverbrennungsanlage, der Müllverbrennungsanlage der Feinstaubfilter.


Wir nutzen immer schädlichere Materialien, versuchen diese aber immer sparsamer einzusetzen. Die Natur wählt einen anderen Weg. Was sie verwendet, ist unschädlich. Dafür kann sie es sich leisten, so richtig schön ineffizient und verschwenderisch zu sein. So viele Blüten, so wenige Früchte. So viele Früchte, so wenige neue Samen. So viele Samen, so wenige neue Triebe. So viele neue Triebe, so wenige neue Bäume, die von vorne beginnen und wieder Blüten tragen. Wenn ich etwas gelernt habe in dem halben Jahr, das ich nun ins Freie gehe, dann dies: Es ist nichts gegen Verschwendung einzuwenden. Im Grunde kann ich mit der Natur leben und in meiner Freiheit lustvoll und verschwenderisch sein. Oder ich lebe gegen die Natur und lasse mich in meiner Freiheit durch Gesetze und Grenzwerte, vor allem aber durch mein schlechtes Gewissen beschränken.


Aber, mit der Natur leben, wie soll das gehen?

Drinnen? Gar nicht.


Draußen aber bekomme ich manchmal eine Art Zugehörigkeitsgefühl, eine nervöse Augenblickshoffnung, dass ich noch immer teilhabe, dass ich mich in den Kreislauf wieder einfügen kann. Dass alles auch ganz anders organisiert sein könnte. Nicht durch neue Technologie, sondern durch Befreiung vom Überfluss, wie Niko Paech es nennt.

Wenn ich draußen bin, bin ich frei. Wenn ich frei bin, tue ich nicht, was ich soll. Ich stelle nichts her, um es später wieder wegzuwerfen. Ich arbeite nicht und kaufe nichts. Ich folge keiner Mode, ich führe auch keine an, sondern ich gehe für mich allein. Es ist die Beziehungslosigkeit, die Weisungslosigkeit, die mich frei macht. Es ist kein Solipsismus und keine Egozentrik, sondern der erste Schritt zur Veränderung.


Es ist die Herrschaftslosigkeit, die Abwesenheit von Unterordnung und Verknechtung, die dem Draußensein so viel revolutionäre Kraft beimisst, so viel Macht zur Veränderung, nicht durch den Aufstand, nicht durch die Barrikade, sondern durch das Unterwandern, durch das Nichtmitmachen, durch das Bestreiken. Drinnen denke ich in Jahren. Draußen in Generationen.








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